Neue Relevanz der Blauen Karte EU bzgl. der Mindestgehälter von über 45-jährigen ausländischen Fachkräften

Neue Relevanz der Blauen Karte EU bzgl. der Mindestgehälter von über 45-jährigen ausländischen Fachkräften

 

Wenn über 45-jährige akademische Fachkräfte mit ihren vorhandenen Rentenanwartschaften oder privatem Vermögen eine im Rentenalter zu erwartende Versorgungslücke voraussichtlich nicht schließen können, wird die große Blaue Karte im Jahresgehaltskorridor von 43.800 € bis 48.180 € brutto bzw. die kleine Blaue Karte EU von 39.682 € bis 43.800 € brutto ab Mitte November 2023 eine neue Relevanz erlangen.

Über 45-jährige ausländische Fachkräfte mit Berufsausbildung oder akademischer Ausbildung müssen derzeit ein Jahresgehalt von mindestens 48.180 € brutto verdienen, wenn eine einschlägige Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsmigration erstmalig erteilt wird. Darüber hinaus muss die Bundesagentur für Arbeit das Gehalt als arbeitsmarktgerecht einstufen. Das Mindestgehalt in Höhe von 55 Prozent der jeweils aktuellen jährlichen Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung wurde im März 2020 eingeführt (§ 18 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG). Damit soll eine gewisse Höhe von Sozialversicherungsbeiträgen älterer Fachkräfte erreicht werden, um – so lautet ein migrationspolitisches Schlagwort – die sog. „Einwanderung in die Sozialsysteme“ abzufedern.

Folgerichtig wird bei einer nachgewiesenen „angemessenen Altersversorgung“ von diesem Mindestgehalt abgesehen. Ob eine bestehende Altersversorgung „angemessen“ ist, hängt davon ab, welche Rentenansprüche die Person voraussichtlich mit ihrem gegenwärtigen Gehalt in Deutschland noch bis zum Renteneintrittsalter erwerben kann und ob sich mit den schon vorhandenen Rentenanwartschaften oder privatem Vermögen eine zu erwartende Versorgungslücke schließen lässt. Die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz (dort in Nr. 18.2.5.4) enthalten dazu Beispielsrechnungen.

Des Weiteren kann von dem benannten Mindestgehalt im „begründeten Ausnahmefall“ abgesehen werden, wenn an der Beschäftigung der über 45-jährigen ausländischen Fachkraft ein sog. „öffentliches Interesse“ besteht. Dieses öffentliche Interesse wird insbesondere in den drei Ausprägungen regionales, wirtschaftliches oder arbeitsmarktpolitisches Interesse anerkannt.

Eine dritte Ausnahme vom benannten Mindestgehalt für ältere akademische Fachkräfte besteht im Anwendungsbereich der Blauen Karte EU, welche im Gegensatz zur Aufenthaltserlaubnis eine sog. qualifikationsangemessene Beschäftigung verlangt und – unabhängig vom Alter der Fachkraft – ohnehin bestimmte Gehaltsgrenzen vorschreibt. Noch bis zum 17.11.2023 hat diese Ausnahme eine relativ geringe Relevanz, da die sog. kleine Blaue Karte EU für die in § 18b Abs. 2 S. 2 AufenthG benannten Engpassberufe mit einem aktuellen Jahresmindestgehalt von 45.552 € nur knapp unter dem spezifischen Mindestgehalt für ältere Fachkräfte liegt. Die sog. große Blaue Karte EU nach § 18b Abs. 2 S. 1 AufenthG verlangt noch ein aktuelles Jahresmindestgehalt von 58.400 €, d.h. ohnehin deutlich über dem spezifischen Mindestgehalt für ältere Fachkräfte.

Mit dem jüngst verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung (BGBl. I Nr. 217 vom 18.08.2023) werden jedoch die Jahresgehaltsgrenzen der Blauen Karte EU ab dem 18.11.2023 deutlich verringert:

 

  • bei der zustimmungsfreien großen Blauen Karte EU von 58.400 € auf 43.800 €, d.h. von vormals zwei Dritteln auf nunmehr 50 % der jährlichen Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung (§ 18g Abs. 1 S. 1 AufenthG nF).

 

  • bei der zustimmungspflichtigen kleinen Blauen Karte EU von 45.552 € auf 39.682 €, d.h. von vormals 52 % auf nunmehr 45,3 % der jährlichen Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung (§ 18g Abs. 1 S. 2 AufenthG nF). Zudem wird der Kreis der für die kleine Blaue Karte EU relevanten Engpassberufe deutlich erweitert. Zu den bisherigen Berufsgruppen 21, 221 oder 25 der internationalen Standardklassifikation ISCO-08 in den Bereichen Naturwissenschaften, Mathematik, Ingenieurswissenschaften, Humanmedizin sowie Informations- und Kommunikationstechnologie kommen kommen nun auch Führungskräfte, wie bspw. Geschäftsführer, Betriebsleiter, Bereichsleiter, Abteilungsleiter oder Projektleiter, in der Produktion, bei der Herstellung von Waren, im Bergbau und im Bau sowie in der Logistik (Berufsgruppe 132), in der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie (133) sowie in der Erbringung von speziellen Dienstleistungen, insbesondere der Kinderbetreuung, im Gesundheitswesen, der Altenbetreuung, der Sozialfürsorge, des Bildungswesens sowie auf Filialebene in der Erbringung von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (134). Neben den vorbenannten Führungskräften wird der Anwendungsbereich der kleinen Blauen Karte EU erweitert auf akademische Krankenpflege- und Geburtshilfekräfte (222), Tierärzte (225) und sonstige akademische und verwandte Gesundheitsberufe, insbesondere Zahnärzte, Apotheker, Fachkräfte in den Bereichen Umwelt- und Arbeitsmedizin sowie Hygiene, Physiotherapeuten, Diätologen und Ernährungsberater, Audiologen und Sprachtherapeuten, Optometristen und Orthoptisten, Fußspezialisten, Ergo- und Freizeittherapeuten, Chiropraktiker, Osteopathen und andere Gesundheitsfachkräfte, die diagnostische, vorbeugende, heilende und rehabilitierende Gesundheitsdienste bieten (226) sowie Universitäts- und Hochschullehrer, sonstige Lehrkräfte, insbesondere im Bereich Berufsbildung, im Sekundarbereich, im Primar- und Vorschulbereich (23).

Daraus ergibt sich für die große Blaue Karte EU im Jahresgehaltskorridor von 43.800 € bis 48.180 € bzw. für die kleine Blaue Karte EU von 39.682 € bis 43.800 € eine neue Relevanz für über 45-jährige akademische Fachkräfte. Denn soweit diese mit ihren vorhandenen Rentenanwartschaften oder privatem Vermögen eine zu erwartende Versorgungslücke im Rentenalter voraussichtlich nicht schließen können, könnte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18b AufenthG – wie bisher – regelmäßig nicht erteilt werden.

Bei den nun deutlich erweiterten Berufsgruppen der kleinen Blauen Karte EU steht dies im Gehaltskorridor von 39.682 € bis 43.800 € unter dem Vorbehalt, dass die Bundesagentur für Arbeit im Zustimmungsverfahren von einem arbeitsmarktgerechten Gehalt ausgeht: keine „ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare inländische Arbeitnehmer“ gem. § 39 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG.

In dem nachfolgenden Gehaltskorridor von 43.800 € bis 48.180 € findet eine solche Prüfung der Bundesagentur für Arbeit nicht statt, da die dann schon einschlägige große Blaue Karte EU keiner solchen Zustimmung bedarf. Allerdings muss das Gehalt stets für den Lebensunterhalt unter Berücksichtigung von laufenden Zahlungsverpflichtungen wie Miete, familiärer Unterhalt u.s.w. auskömmlich sein, damit der Aufenthaltstitel erteilt werden kann. Dies dürfte insbesondere in Großstädten und bei Familien mit Kindern (im Einverdienermodell) wohl häufig schwierig werden.

 

Andreas Dippe
Rechtsanwalt
LL.M. (Moskau)